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Literatur Ulrike C. Tscharre

„Ich will immer alles lesen. Von allen“

Redakteur Feuilleton
Ulrike C. Tscharre wuchs im Schwäbischen auf, lebt in Brandenburg Ulrike C. Tscharre wuchs im Schwäbischen auf, lebt in Brandenburg
Ulrike C. Tscharre wuchs im Schwäbischen auf, lebt in Brandenburg
Quelle: Agency People Image
Ulrike C. Tscharre ist eine der meistbeschäftigten deutschen Schauspielerinnen. Beinahe wäre sie als Dramaturgin am Theater gelandet. Ihr Hang zum Enzyklopädischen. und ihre Liebe zum Landleben spiegeln sich in den Büchern ihres Lebens.

Wir haben uns mal in den Karpaten getroffen. Bei Dreharbeiten für Dominik Grafs preisgekröntem Thriller „Die Zielfahnder“ war das. Ronald Zehrfeld war dabei. Ulrike C. Tscharre spielte seine Kollegin. Ein shininghaftes Sporthotel gab’s. Vor Bären wurde gewarnt. Jetzt sind wir wieder auf dem Land, südlich von Berlin. Seit zweieinhalb Jahren wohnt Tscharre hier. Sie kommt vom Land, ist in einem Handwerkerhaushalt im württembergischen Bempflingen aufgewachsen. Hat früh mit dem Theater angefangen, sich aber erst spät und über den Umweg eines abgebrochenen Literaturwissenschaftsstudiums getraut, Schauspielen zum Leben zu machen. Inzwischen ist sie – Dominik Graf als früher Entdecker war nicht unschuldig daran – eine der meistbeschäftigten deutschen Fernsehschauspielerinnen. Mit einem einzigen Augenbrauenzucken kann sie vom Rand eines Plots einen ganzen Film an sich reißen. Das kann man prima im nächsten Stuttgarter „Tatort“ sehen, am 19. November. Heute erzählt sie, wie Peter Handke, Bill Buford und ein Nachhaltigkeitspapst ihr Leben verändert haben.

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1. Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf

Lesen konnte ich schon ein bisschen, bevor ich in die Schule kam. Und dann wurde ich schnell eine Vielleserin. Immer mit einem Buch unterm Kopfkissen, weil ich die Geschichten nachts nicht loslassen wollte. Pippi Langstrumpf, dieses wilde und freie Mädchen, war – wie wahrscheinlich bei vielen Kindern – der Gegenpol zur Welt, in der ich lebte. Mein Vater war Handwerker und hatte es quasi aus dem Nichts, durch hartes Arbeiten, oft auch am Wochenende, zum Leiter eines Heizungs-, Lüftungs-, Klima- und Sanitärinstallateur-Betriebs gebracht. Meine Mutter versorgte den Haushalt und uns drei Kinder. Es gab viel Dasmachtmanso und Dasgehörtsichso. Und ich hatte schon sehr früh den Verdacht, dass ich doch eher Annika als Pippi bin, hatte aber, wie wohl viele Kinder, den Traum, eines Tages wenigstens ein bisschen Pippi zu sein. Vielleicht hat das am Ende sogar geklappt, sonst hätte ich, wie meine Eltern sich das gewünscht haben, eine Lehre bei der Bank gemacht und wäre nicht über Umwege Schauspielerin geworden. Wichtig an Pippi Langstrumpf war, dass sich ihre Geschichte, wie nicht wenige von Astrid Lindgren, um Verlust dreht. Um den verlorenen Vater und die gestorbene Mutter. Wichtig war, dass Pippi trotz ihrer Frechheit und Wildheit und der Streiche, die sie allen gespielt hat, abends, wenn sie allein war, in den Himmel geschaut hat und mit ihrer Mutter sprach. Das war für mich – ich war da ja wirklich noch sehr klein – die erste Konfrontation mit Trauer und Tod. Das schwang immer mit im Buch und ist eine für mich eine ganz wichtige Qualität des Buches, die gern vergessen wird.

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2. Andrea Pabel: Meine Reise nach Indien

Unser Alltag in der Familie war pragmatisch – wie zu dieser Zeit wohl in den meisten westdeutschen Familien. Meine Mutter hatte drei Kinder und unglaublich viel zu tun. Mein Vater war arbeiten. Und wir Kinder waren halt da. Keiner hat sich ein Beschäftigungsprogramm für uns ausgedacht. Wenn wir krank waren, war das anders. Da hatten wir dann, das war das Tolle am Kranksein, die alleinige Aufmerksamkeit unserer Mutter. Und sie brachte einem was vom Einkaufen mit. Als ich mal – mit zwölf ungefähr – im Bett lag, war das Andrea Pabels Buch „Meine Reise nach Indien“. Meine Eltern sind gläubig, evangelisch und haben uns im christlichen Geist erzogen. „Meine Reise nach Indien“ ist das Tagebuch einer jungen Holländerin, die nach ihrem Schulabschluss mit zwei anderen jungen Frauen nach Indien in eine holländische Missionsstation geht, um dort zu arbeiten. Dort werden sie konfrontiert mit all dem Elend in Indien. Gleichzeitig fanden sie sich in einer Gemeinschaft voller guter Laune und Zuversicht wieder. Mich hat das extrem beeindruckt, was die drei jungen Frauen, die gerade ihre holländische Komfortzone hinter sich gelassen hatten, so geschafft haben. Das ist vielleicht kein besonderes Buch, aber eines, das mir wichtig war und bis heute geblieben ist. Seitdem möchte ich nach Indien reisen, habe es aber bis heute nicht geschafft. Ich weiß nicht warum.

3. Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht

Im Haus meiner Großeltern in Kärnten, wo mein Vater herkommt, gab es ein Zimmer, das für uns Kinder verboten war. Das war angefüllt mit alten Sachen von ihren fünf Kindern, von den Urgroßeltern, von Zeug, das keiner mehr brauchte. Niemand wollte, dass wir da herumstöbern. Was wir natürlich heimlich gemacht haben. Einmal ist mir dabei – ich war da so um die 16 – ein Buch von Peter Handke in die Hand gefallen. Es roch ein bisschen muffig, lag wohl schon länger da. „Der kurze Brief zum langen Abschied“. Ich kann nicht mehr sagen, was genau drinstand, aber ich weiß noch, dass es mich unglaublich beeindruckt hat, so ein Buch im Haus meiner Großeltern zu finden, weil das eher einfache Leute waren. Das Buch hat in mir, vielleicht auch weil Peter Handke aus Kärnten stammt, eine Liebe zu ihm geweckt. Das Buch von Handke, dass mich am meisten begleitet, geprägt hat, ist „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ – in dem ein Erzähler vom Erzählen erzählt, von der Einfachheit, in der er lebt, der Askese, sein Haus beschreibt und den Platz vor dem Haus und wie er in den Garten geht. Das hat sofort etwas in mir zum Klingen gebracht. Vielleicht weil ich, so schnell es ging, weggezogen bin aus Bempflingen, aus meinem Dorf, weil ich in der Stadt leben wollte, hinaus in die Welt. Es gibt eine Stelle im Buch, da erzählt Handke von einem Moment, in dem er weit weg war von seiner Niemandsbucht, und er beschreibt die Sehnsucht nach diesem Ort. Und in dieser Beschreibung der Sehnsucht nach dem Kleinsten, nach dem Gewöhnlichsten, nämlich dem Alltag, den er dort hat, fand ich mich total wieder. Vielleicht war das Ausdruck meiner Sehnsucht, die ich immer hatte, nach der Einfachheit und der Stille des Lebens auf dem Land. Eine Ahnung, dass ich nicht für die Stadt gemacht bin, dass die Stadt in meinem Leben nur eine Episode sein konnte.

4. John Irving: Garp und wie er die Welt sah

John Irving habe ich so um die 20 entdeckt. Und dann – das Enzyklopädische ist gewissermaßen das Literaturmuster meines Lebens – über Jahre hinweg alles von ihm gelesen, was mir in die Hände fiel. Ich habe eine Zeitlang gewissermaßen in der Welt von John Irving gelebt. „Garp und wie er die Welt sah“ ist allerdings wahrscheinlich mein Lebensbuch von ihm. Ich liebte seine Figuren (nicht nur von „Garp“, auch die im „Hotel New Hampshire“ oder in der „Geschichte vom Wassertrinker“). Ich liebte seine Liebe für seine Figuren. So einen reichen Kosmos an Leben, so wundervolle Geschichten hatte ich vorher noch bei keinem Schriftsteller entdeckt. Und ich wollte immer Teil so einer Welt sein.

5. T. C. Boyle: América

Jetzt sind wir in Tübingen. Da bin ich fürs Literaturwissenschaftsstudium hingegangen. Ich hatte schon mit 16 angefangen, am Theater zu spielen. Tatsächlich Schauspielerin zu werden, war für mich aber ein so abseitiger Gedanke, wegen Bempflingen, dem kleinen Ort, in dem ich aufgewachsen bin und wegen meiner bodenständigen Familie. Das Studium war für mich der Versuch, später als Dramaturgin wenigstens ein bisschen in der Welt des Theaters zu Hause sein. Mit der Zwischenprüfung habe ich das aber aufgegeben, weil ich immer weiter Theater spielte und um diese Zwischenprüfung herum merkte, dass ich mich entscheiden muss. Dann bin ich auf die Schauspielschule gegangen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mein erstes Buch von T. C. Boyle, „América“, gelesen. Und das hat mich total geflasht. Ähnlich seiner Hauptfigur war auch ich in einem Umbruch in ein neues Leben. Meines wurde immer klarer, aber im Buch gab es keine Hoffnung. Da wollte ich beim Lesen ständig rufen: Jetzt reicht es aber, jetzt muss es doch endlich besser werden für diesen Menschen. Es wurde aber immer schlimmer, immer katastrophaler, was Boyle seinem armen illegalen Einwanderer aus Mexiko zustoßen ließ. Und ich saß voller gewissermaßen zähneknirschender Bewunderung vor diesem Buch. Mit welcher Konsequenz und Wahrhaftigkeit Boyle diese wahrscheinlich ganz normale Wirklichkeit von Illegalen erzählt! Ungeschönt, ohne Happy End. In den meisten Fällen erfüllt sich halt nichts von dem, was sich Einwanderer erträumen, wenn sie ihr Zuhause verlassen haben, was ja wirklich ein großer Schritt ist. Meistens finden sie sich in einem Leben wieder, wie es Boyle beschreibt, mit dem sie sich dann irgendwie arrangieren müssen. Ein Leben, das vielleicht sicherer ist als das alte und in dem sie zu essen haben und ein Dach über dem Kopf – aber ob das unbedingt besser ist?

6. Haruki Murakami: Gefährliche Geliebte

Auf Haruki Murakami bin ich während meiner Zeit auf der Schauspielschule gestoßen. Und habe gleich so viel wie möglich von ihm verschlungen. Ich habe die Neigung, von einem Autor, den ich gerade für mich neu entdeckt habe, möglichst viel zu lesen. Vielleicht weil ich denke, dass ich alles nachholen muss, weil es ja furchtbar ist, was ich alles bis dahin nicht kannte. Den Roman von Murakami, der mich am meisten bewegt hat, kann ich schwer nennen. Vielleicht ist es „Gefährliche Geliebte“. Die wunderschöne Liebesgeschichte von zwei Menschen, die wahrscheinlich füreinander bestimmt sind, es aber irgendwie doch nicht schaffen, ein gemeinsames Leben zu leben. Als sie dann zusammenkommen, endet es tragisch. Murakami ist ein Schriftsteller der Suche. Nach etwas, nach jemanden. Und gleichzeitig ein Erkunder der Seele. Das Naturalistische und das total Fantastische, das Tatsächliche und das Fabelhafte werden bei ihm gleichwertig behandelt, kippen ineinander, dass man als Leser am Ende gar nicht weiß, wo man ist. Sieht der Mensch da, bei dem man gerade ist im Buch, wirklich diese zwei Monde am Himmel, kann es das geben? Das ist irritierend und wunderschön.

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7. Hans Fallada: Wie ich Schriftsteller wurde

Das ist ein ganz schmaler, kleiner Band, fast wie ein Reisebüchlein. Fallada erzählt darin exakt das, was der Titel sagt. Wie er Schriftsteller wurde. Und er steht mit dem, was er da schreibt über sein Künstlertum, stellvertretend für eine ganz große Zahl von Menschen mit künstlerischen Berufen. Dass ihn das Publikum nicht interessiert, dass er beim Schreiben nicht an irgendwelche Leser denkt, sondern alles Denken um die Geschichte kreist, die gerade entsteht. Und wie unsicher er sich ist nach jedem Buch, das er abgeschlossen hat, ob er jemals wieder ein neues würde schreiben können. Das geht mir auch so. Wenn ich ein Projekt abgedreht, vielleicht eine Zeitlang nicht gearbeitet habe und dann wieder in den Prozess des Aneignens einer Figur eintauche, frage ich mich jedes Mal aufs Neue, ob ich das überhaupt noch kann – diese andere Person zu werden, zu sein. Weil das auf einmal so weit weg erscheint und ich wieder so in meinem Alltag gefangen bin und die Arbeit so abstrakt wird. Fallada hat seine Bücher später auch nicht wieder gelesen, weil er sagt, er habe sich im Prozess des Schreibens so intensiv damit beschäftigt und dann beim Redigieren und dann wieder bei Lesungen, dass sie dann irgendwann abgeschlossen waren und weg. Er wusste, er hat’s geschrieben, aber ganz oft auch vergessen, was er geschrieben hatte. Und so geht’s mir mit Filmen auch. Ich weiß selbstredend, was ich gedreht hab, aber dafür, dass ich so intensiv über so viele Wochen mit einem Stoff, einer Geschichte, einer Figur befasst war, vergesse ich erstaunlich viel.

8. Bill Buford: Hitze

Bill Buford war Herausgeber des legendären Literaturmagazins Granta und Literaturchef beim „New Yorker“. Den Posten hat er 2008 sausen lassen, um ein Jahr lang im New Yorker Sternelokal „Babbo“ zu arbeiten. Später ist er sogar nach Italien gegangen, weil er alles über die Herstellung von Pasta und alles über Fleisch lernen wollte. Als Konsequenz dieses Prozesses hat er dann – zurück in New York – ein Schwein gekauft. Ein ganzes Schwein! Und er hat es dann komplett verarbeitet zu mehr als 400 Gerichten. Das alles beschreibt er in „Hitze“ – Untertitel „Abenteuer eines Amateurs als Küchensklave, Sous-Chef, Pastamacher und Metzgerlehrling“ – derart unprätenziös und glamourfrei und gleichzeitig so schwitzig und sinnlich. Das hat mich umgehauen. Ich esse selbst total gerne. Und finde, wenn man gerne isst, muss man zwangsläufig auch selbst kochen. Das geht nicht anders. Ich wäre allerdings als Köchin wie als Mensch gerne so kompromisslos und konsequent wie Bill Buford.

9. John Seymour: Das neue Buch vom Leben auf dem Lande

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Das Buch haben wir von Freunden zur Hochzeit geschenkt bekommen vor zweieinhalb Jahren. Das war vielleicht ein bisschen ironisch gemeint. Kurz vorher sind wir raus aus der Stadt gezogen und leben in einem Haus eine Stunde südlich von Berlin wirklich auf dem Land. John Seymour, ein inzwischen fast legendärer britischer Farmer, hat es geschrieben. Es ist die Bibel für Selbstversorger. Es enthält alles, was man wissen muss, wenn man auf dem Land lebt und sich selbst versorgen will – alles über Abfallverwertung, wie man Bier braut, wie man sich eine Kuh hält, welche Kräuter man draußen in der freien Natur findet, aus denen man Salat und vieles mehr machen kann. Ich dachte ja, weil ich auf dem Land aufgewachsen bin und meine Mutter auf dem großen Grundstück, dass sie von ihrer Mutter geerbt hatte, beinahe alles anbaute, was wir übers Jahr gegessen haben, dass ich vieles weiß. Aber schon beim Blättern merkte ich, was ich gar nichts mehr wusste. Wie schnell Wissen verloren geht, wenn man es nicht nutzt, nicht praktiziert. Ich habe zwar noch kein Stück Feld zum Bestellen, das kommt vielleicht noch, aber immerhin mein eigenes Hochbeet gebaut und ziehe meine eigenen Tomaten und Gurken. Eine Kuh hätte aber leider keinen Platz auf unserem Grundstück.

10. Sarah Kirsch: Ich will nicht mehr höflich sein

Das ist Sarah Kirschs Tagebuch aus der Wendezeit. Ich las es gleich, als es 2022 erschienen war. Und habe mich – da dachte ich nicht im Traum daran, irgendwann hier draußen zu leben – sofort in sie, man kann es gar nicht anders sagen – verknallt. Diese eigenwillige, grummelige Frau, die da in ihrer Einsamkeit hockt, in ihrem Haus in Tielenhemme im Nirgendwo von Schleswig-Holstein, fernab der hektischen Welt, sich der Tierwelt, der Natur irgendwann zugehöriger fühlt als den Menschen. Dahin hatte sie sich bis zu ihrem Tod zurückgezogen, nachdem sie ausreisen durfte aus der DDR, Erich Honecker selbst hat ihrem Ausreiseantrag zugestimmt, weil sie zu unbequem wurde, zu schwierig und sie spätestens nach der Biermann-Ausweisung nicht mehr in diesem Land leben wollte. Sie war da in Tielenhemme enorm produktiv, hat gemalt, hat Gedichte geschrieben. Und eben Tagebuch geführt. In dem beschreibt sie ihr Leben mit ihren Tieren, wie sie Schafe füttert, wie der Esel schreit, sie durch den Wald geht. Und gleichzeitig beobachtet sie sehr wach, sehr genau, was da politisch in der DDR passiert, während die untergeht. Ich habe angefangen, alle ihre Gedichte zu lesen. Noch bin ich nicht damit fertig.

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