Ohne nackte Haut: Die neue Miss Germany will nicht die Schönste im Land sein

Leonie von Hase ist die neue “Miss Germany“.

Leonie von Hase ist die neue “Miss Germany“.

Rust. Die Hände zur Faust geballt reckt sie die Arme in die Luft und strahlt in die Kameras: nicht kokett, sondern ausgelassen. Leonie von Hase ist die neue Miss Germany – und mit 35 Jahren die älteste Miss Germany, die es je gab. Eine gestandene Frau.

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Mehr als zwei Stunden Show liegen hinter ihr und noch viel mehr Stunden der Vorbereitung. Die Kielerin bittet erst mal um einen Labello, bevor sie sich den Fragen der Journalisten stellt – ihre Lippen sind trocken vom Lachen und Reden. Auch Schönheitsköniginnen sind nicht perfekt. Na und?

Diese Samstagnacht der deutschen Misswahl ist eine Nacht der Premieren. Früher durften nur Frauen unter 30 mitmachen – jetzt gewinnt eine Frau, die fünf Jahre älter ist. Leonie von Hase ist auch die erste Miss Germany, die den ganzen Abend kein Kleid getragen hat. Sie eroberte die Bühne im Hosenanzug und mit alltagstauglicher Kombi aus Hose und Pullover. Der Bikiniwalk ist schon 2019 abgeschafft worden, aber erst dieses Jahr waren die Macher der Misswahl wirklich konsequent: keine an die Wand geworfenen Bikinibilder von Shootings, keine bauchfreien Oberteile und Minishorts, wenige tiefe Ausschnitte.

Und: Zum ersten Mal in 93 Jahren Miss-Germany-Geschichte ist eine Kandidatin, Meryem Martin, mit Babybauch auf die Bühne marschiert.

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Miss Germany Leonie von Hase: „Schönheit kommt für mich von innen“
 Miss Germany 2020. Leonie von Hase  Miss Schleswig-Holstein  anl����lich ihrer Wahl zur MISS GERMANY 2020 am 15.02.2020 im Europapark Rust. 20200215MWI22516 *** Miss Germany 2020 Leonie von Hase Miss Schleswig Holstein on the occasion of her election for MISS GERMANY 2020 on 15 02 2020 at Europapark Rust 20200215MWI22516

Seit Samstagabend ist die 35-jährige Kielerin Leonie von Hase die neue Miss Germany.

Keine “alten, weißen Männer” mehr in der Jury

Miss Germany hat sich neu erfunden. Das deutsche Fräulein ist erwachsen geworden. An vielen Stellschrauben ist gedreht worden. Vorwahlen in Städten und Bundesländern gibt’s nicht mehr. Die Frauen wurden direkt über Bewerbungsvideos und ihre Social-Media-Kanäle ins Finale gewählt. Dort erwartete sie nun zum ersten Mal eine komplett weibliche Jury. Juroren wie CDU-Mann Wolfgang Bosbach mussten Platz machen für RTL-Moderatorin Frauke Ludowig, Ex-CSU-Politikerin oder TV-Investorin Dagmar Wöhrl.

Es hat seinen Grund. Der Wettbewerb kämpft ums Fortbestehen. Schönheitswettbewerbe an sich wirken nicht erst seit #MeToo und Debatten um gleiche Chancen am Arbeitsplatz etwas aus der Zeit gefallen. Und der Kern des Geschäfts bleibt ja: Junge Frauen treten in einer langen Reihe an, werden begutachtet, bewertet, zur Schau gestellt.

Das weiß auch die Miss Germany Corporation (MGC). Und antwortet mit einem neuen Konzept: Es soll im Wettbewerb heute mehr um Persönlichkeit als um Aussehen gehen.

“Klassische Schönheitswettbewerbe sind keine zukunftsorientierte Institution mehr"

Hinter MGC steckt kein Imperium, sondern ein kleiner Familienbetrieb. Seit Jahrzehnten suchen die Klemmers nach der schönsten Frau Deutschlands – und jetzt eben nach dem authentischsten Charakter. Gegen eine Reihe von Konkurrenten hat sich die MGC vor 20 Jahren durchgesetzt und darf seither allein den Titel Miss Germany vergeben. Bis vor drei Jahren stellten Horst Klemmer, 83, und sein Sohn Ralf Klemmer, 55, die Veranstaltung mit einem 15-Leute-Team auf die Beine – dann hat Max Klemmer,24, vom Großvater übernommen.

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Max ist der Mann, der die Männer aus der Jury verbannt hat. Aber macht es die Veranstaltung für Kritiker wirklich weniger angreifbar, dass keine „alten, weißen Männer“ mehr Frauen begutachten?

„Wenn man Sexismus so begreift, dass Frauen nur durch Männer sexualisiert werden, kann eine weibliche Jury auch nicht sexistisch sein“, sagt Gabriele Dietze vom Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin. Es gebe aber auch „übersetzten Sexismus“ – wenn eine weibliche Jury einen „stellvertretend männlichen, sexistischen Blick“ auf Frauen wirft.

Klemmer begründet die Entscheidung so: „Wir suchen authentische Botschafterinnen, die stellvertretend für ganze Generationen stehen, und wer kann authentische Frauen besser erkennen als gestandene, authentische Expertinnen?“

Die Rückendeckung der Kandidatinnen hat er. Von Hase etwa meint: „So wird klargemacht, dass der männliche Blick nicht mehr zählt.“ Ihre 21-jährige Konkurrentin Maya Jolina Lu Wicht sagt: „Ich würde mich nie auf meinen Körper reduziert fühlen, ich vertraue da der Auswahl der Jury.“ Die Berlinerin glaubt, dass es bei der Bewertung darum ging, „was man vermittelt und um die Personality“.

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“Meine Priorität ist und bleibt meine Familie"

So ganz neu ist die Idee nicht. Schon vor fast 100 Jahren, beim ersten Miss-Germany-Wettbewerb 1927 nach amerikanischem Vorbild, stellte sich im Berliner Sportpalast die Charakterfrage. Da zeterten nämlich einige Verliererinnen am Ende so unflätig und laut, dass der „Berliner Lokal-Anzeiger“ sich bemüßigt sah, eine charakterliche Bewertung der Kandidatinnen zu fordern. Eine Schönheitskönigin brauche auch „die innere Berechtigung, ihr Vaterland als Idealfigur zu vertreten“.

Ganz so schwülstig geht’s im Europapark 2020 nicht zu. Doch Stil und Haltung sind ständiges Thema. Die Veränderungen sind sicht- und hörbar: Statt in ständige Outfitwechsel werden die etwas mehr als zwei Stunden des Abends in Sprechzeit der Kandidatinnen investiert. Sie müssen sich Fragen der Jury stellen – mit teils überraschenden Ergebnissen. So will Miss Bayern Lara Runarsson, gerade mal 22, unbedingt einmal Angela Merkel treffen: „Das ist eine starke Frau, die mich inspiriert.“

Bei MGC indes sind die Chefs Männer. „Das ist uns auch schon aufgefallen“, sagt der jüngste Klemmer lachend. Der Rest des Teams bestehe aber aus Frauen. „Wir haben flache Hierarchien“, sagt er und will nicht ausschließen, dass sich am Vorstand etwas ändern könnte.

Wie bei der Jury, über deren Weiblichkeit Genderforscherin Dietze sagt: „Das ist ein Versuch, die Legitimität des Wettbewerbs aufrechtzuerhalten.“ Das Problem, das sie sieht, ändere sich dadurch nicht: „Die Verobjektivierung des weiblichen Körpers und die dazugehörige Industrie, die den Frauen vormacht, sie hätten Mängel, denen sie vorbeugen oder entgegenwirken müssen, bleibt.“ Es gehe auch ums Geschäft: Mit der Wahl werde ein Marktsegment bespielt, das auf die Schönheit der Frau abzielt.

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So steht auch dieses Jahr etwa wieder ein Stand des Unternehmens Elasten in der Empfangshalle des Europaparks Rust und wirbt für Trinkampullen gegen Falten. Zum Gewinn von Leonie von Hase gehört ein Jahresvorrat an Schönheitsprodukten. Trotzdem sagt Klemmer: „Klassische Schönheitswettbewerbe an sich sind keine zukunftsorientierte Institution mehr, man muss mit der Zeit gehen. Der Kern ist der Wettbewerb, nicht die Schönheit.“

Körpermaße aus der Bewerbung genommen

So wurden aus der Bewerbung die Körpermaße rausgenommen – 90-60-90 zählt nicht mehr. Ein Blick auf die neue Miss und ihre Mitbewerberinnen zeigt aber: Stark abweichen tut keine von den Modelfiguren. Und Leonie von Hase, aufgewachsen auf einer Farm in Namibia, hat sowieso schon jahrelang als internationales Model gearbeitet.

Statt von ihren Maßen mussten die Frauen von Visionen erzählen, von ihrer Rolle in der Welt, und sich mit einem Social-Media-Profil bewerben. Dabei ist gerade Instagram ein unendlicher Schönheitswettbewerb. Und auch bei der Miss-Wahl ging es mitnichten allein um Persönlichkeit. Jurymitglied Ludowig meint: „Das Aussehen spielt immer eine Rolle“, aber eben „auch das Auftreten, das Reden, der Gesamteindruck“. Auf der Bühne lobt Moderator Thore Schölermann die „wunderschönen Frauen“ – doch immer im Zusammenhang mit ihrem Wesen.

Dass Instagram dem Schönheitswettbewerb Konkurrenz macht, ist auch in der Show Thema. Dort lassen sich mehr Menschen erreichen, als in die Veranstaltungshalle des Europaparks passen. Das weiß auch Klemmer: „Bei Social Media gibt es die Möglichkeit, sich etwas aufzubauen. Der Wettbewerb pusht das aber auch.“ Mit TV-Formaten wie „Der Bachelor“ oder „Germany’s Next Topmodel“ will er die Wahl nicht vergleichen: „Wir wollen nicht der klassische Reichweitengeber sein.“ Ludowig sieht das so: „Ich glaube, da ist durchaus ein Vergleich ziehbar, denn es sind viele junge Menschen, die durch den Aufschlag in der Öffentlichkeit eine gewisse Bekanntheit erlangen.“

Bekanntgabe der Gewinnerin erinnert an GNTM

Die Bekanntgabe der Gewinnerin erinnert dann aber sehr an die Klum-Schau: Wie in der Modelshow wird das Cover der Zeitschrift „Joy“, schattiert und ohne Gewinnerinnenfoto, an die Wand geworfen. Als Leonie von Hases Name genannt wird, erscheint ihr Bild darauf.

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Und doch steht laut Max Klemmer „Empowerment“, also die Entwicklung von Strategien zur Selbstbestimmung und das Vertreten eigener Interessen, ganz oben. Immer wieder fällt das Wort an diesem Abend. Auch unter den Workshops, an denen alle Kandidatinnen teilnahmen, war ein „Empowerment Coaching“, erzählt Maya Jolina Lu Wicht – neben Catwalk-Training und einem Kurs mit dem Kosmetikunternehmen Babor. Schließlich müssen auch die Sponsoren zufriedengestellt werden.

Die neue Miss weiß, was sie will

Dass die Wahl sonst nicht funktioniert, scheint Leonie von Hase zu wissen. Neben Kosmetik und dem Coverfoto hat sie für ihre Amtszeit zwei Autos gewonnen – und den Managementvertrag mit der MGC. „Der Verdienst hängt von den Aufträgen ab, die die Miss bekommt“, erklärt Klemmer. Ein Festgehalt gebe es nicht. Auch von Hases Termine werden erst noch geplant. Dass sich die Mutter eines dreijährigen Sohnes nicht stressen lassen will, stellt sie direkt klar: „Meine Priorität ist und bleibt meine Familie. Ich kann nicht alles beiseite räumen, um eine Schaufensterpuppe zu sein.“

Eine Kampfansage an den Schönheitswettbewerb alter Art, die die daneben sitzenden Klemmers gefasst hinnehmen – ihre neue Miss verkörpert eben das, was sie wollen. Einen Umbruch.

Von Hase will „nicht die Schönste im Land sein“, sie will die Aufmerksamkeit nutzen, um zu zeigen, dass auch Frauen über 30 sich neu erfinden können – und Aufmerksamkeit auf ihren Onlineshop lenken. Diese pragmatische Sichtweise deckt sich zum Teil mit der Einschätzung von Genderforscherin Dietze, die sagt: „Ich glaube, dass viele das sachlich sehen: Sie werden als Miss ein Jahr gut bezahlt und schaffen damit eventuell den Start für eine Modelkarriere oder als B-Promi.“ Letzteres bestreiten allerdings viele Kandidatinnen: Sie wollen nicht ins Dschungelcamp, sondern sich für Nachhaltigkeit oder Krebskranke einsetzen.

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Die Klemmers jedenfalls haben den ersten Test geschafft. In der abschließenden Pressekonferenz erklärt der junge Max Klemmer, der all das Neue angeschoben hat, zum x-ten Male die Idee dahinter. So erschöpft wie erleichtert. Es ist vollbracht, die erste Miss Germany einer neuen Zeit ist gewählt. An einem Abend ganz ohne nackte Haut und Machosprüche.

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